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Walter Titz

 

 

Eröffnungstext zur Ausstellung „Freud im Keller“ (in Szene gesetzt von Antje Hochholdinger)

 

Nicht im Kino gewesen. Nicht geweint. In den Keller gegangen. Freud getroffen. Über Kunst gesprochen. Über Michelangelo und Leonardo, seine Lieblingsgenies? Natürlich. Aber nicht nur. Über die Antike, seine Lieblingsepoche? Selbstredend. Aber nicht nur. Über die Symbolisten? Gewiss. Die hätten schon vor ihm "freudianische" Kunst geschaffen. Kunst, die aus tieferen Schichten schöpft, aus - oft erotischen, oft dunklen - Träumen. Aus dem Unterbewusstsein, aus dem Reich des Es, das keineswegs nur in Kellern zu finden sei.

Über den Surrealismus? Natürlich. Von dem Freud meinte, nicht in der Lage zu sein, "mir klar zu werden, was der Surrealismus will und in was er besteht. Kann sein, daß ich nicht dazu geschaffen bin, ihn zu verstehen; ich der ich soweit von der Kunst entfernt bin."

Immerhin: Salvador Dalí, der Freud mehrmals porträtierte und ihn 1938 in London besuchte, konnte ihm den Surrealismus etwas näher bringen.

Fraglos, dass Freud viele Künstlerinnen und Künstler inspiriert hat. Jetzt also Gerstel. Gerstl? Ist der nicht schon lange tot? Tragisch aus dem Leben geschieden im Wien des Jahres 1908? Bald nachdem ihn Arnold Schönberg in flagranti mit seiner Frau erwischt hatte? Das ist Richard Gerstl. Gerstl ohne e. Der mit 17 Freuds "Traumdeutung" liest und schwer beeindruckt ist.

Nicht Richard also. Hier und jetzt sprechen wir von Wilfried Gerstel. Der Freud im Keller, in diesem Keller, eine wohldurchdachte, fein komponierte Hommage widmet. Oder vielleicht besser ausgedrückt: in seinen Werken Aspekte des komplexen Freudschen Gedankengebäudes in starke Bilder verwandelt. Nicht erklärt, nicht interpretiert. Im Bild bannt. Etwa auf sieben mit 1195 Grad gebrannten Mangantontafeln. Der kunstferne Freud hätte zumindest an der "unleugbar technischen Meisterschaft" dieser Exponate - pardon, das muss jetzt sein - Freud' gehabt. Vielleicht doch auch die künstlerische Leistung der Übersetzung von komplexen Ideen in hochästhetische Objekte geschätzt.

Gerstels Tafeln haben zeichenhaften Charakter, die Titel geben Hinweise auf  Inhalte. "Wiener Revolte" ist da etwa zu lesen. Revolutionär sind die Ideen Freuds zweifellos. Das Revolutionäre liegt im Wien um die vorige Jahrhundertwende offenbar in der Luft. In der bildenden Kunst, in der Architektur, in der Musik. Später revoltieren die Aktionisten (auch sie natürlich eine Freudiana-Fundgrube), auch die Autoren der Wiener Gruppe. Und natürlich gab und gibt es immer wieder, was besagte Tafel im verschmitzten Grinsen konstatiert: "Revöltchen". Jede Menge.

"Ich, selbdritt", "Traum" und "Eros und Thanatos" setzen Freudsche Hauptthemen in markanter Eleganz, die allen Tafeln eigen ist, eindrucksvoll um. Bei "Triebe und Werte" sowie bei "Achtzig Prozent" benötigt die Erkenntnis - "AHA!" - etwas Vorwissen. Die Schleife auf der einen Tafel ist der Red Bull-Ring, das Schiff auf der anderen die Titanic. Ihr Kiel wird zur Spitze des Eisbergs, die für jenen Teil menschlicher Existenz steht, der Freud Bewusstsein zuschrieb. Und wie Triebe und Ge-Triebe miteinander verwandt sind, weiß vermutlich, wer fahrbare Untersätze mehr liebt als alles andere.  

Goethe und Freud? Folgt man Freuds Biografen, verhindert der Geheimrat, dass Sigmund  Jurist wird. "Die Natur" heißt das Fragment, welches der Student in spe hört: "Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen - unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen." Eine Provokation, die den 17-Jährigen den Entschluss fassen lässt: "Ich werde Einsicht nehmen in die jahrtausendealten Akten der Natur, vielleicht selbst ihren ewigen Prozeß belauschen und meinen Gewinst mit jedermann teilen, der lernen will."

Goethes "Heideröslein" ist also in unserem Keller am richtigen Ort. Gerstel hat den Text in Tontafeln geschossen, um die harten Fakten hinter den so heiter und romantisch klingenden Zeilen unübersehbar zu machen. "Und der wilde Knabe brach / ’s Röslein auf der Heiden; / Half ihm doch kein Weh und Ach, / Mußt’ es eben leiden." Tja, musst es eben. Im 21. Jahrhundert ein klarer Fall für die Justiz.

Eine als "Selfie" betitelte Arbeit hat Wilfried Gerstel auf einen Eichenrahmen kaschiert und mit einem weiteren Freud-Zitat versehen. Wer in diesen Spiegel blickt und den darauf applizierten Text liest, was Freud uns im Positiven wie im Negativen zutraut, wird nicht umhin können, über die hellen und dunklen Zonen unserer Existenz nachzudenken.   

Von dieser existentiellen Dualität handelt auch ein Gemälde von 1996, versehen mit einem Freud-Befund aus der leider dauerhaft aktuellen Schrift "Zeitgemäßes über Krieg und Tod": "Mit jedem Einschlafen werfen wir unsere mühsam erworbene Sittlichkeit wie ein Gewand von uns - um es am Morgen wieder anzutun." Welche Träume werden auf diesem Bild von wem geträumt? Wer träumt hier wen? Das Mienenspiel ist nicht eindeutig. Ein Lächeln kann auch Unbehagen ausdrücken, ein mürrisches Gorilla-Antlitz vielleicht Zufriedenheit. Aber ist die Physiognomie des Menschenaffen überhaupt mürrisch? Was dem Austriaken vermutlich sofort einfällt, ist das Urteil der Tante Jolesch über männliche Schönheit. Dem Cinephilen kommt möglicherweise eine Sentenz des Regisseurs Jean-Pierre Melville in den Sinn: "Es gibt keine größere Einsamkeit als die des Samurai, es sei denn die des Affen in der Zivilisation."

Die Einsamkeit des Affen in der Zivilisation. Da ist es nur ein Sprung zum Unbehagen in der Kultur. "Das Unbehagen in der Kultur" ist ein weiteres Hauptwerk Freuds, publiziert 1930. Kultur ist hier Synonym für Zivilisation. Für Gebäude, die, so Freud, von Menschen vor allem durch Eins errichtet und erhalten werden können: Triebverzicht. Dieses Unbehagen (im Ur-Titel noch "Unglück"), sei, so der Wiener Freud-Schüler Bruno Bettelheim, "die unausweichliche Begleiterscheinung jener Sublimierungen, die notwendig sind, um ein kultiviertes Dasein zu erlangen". Über eine der wesentlichsten Sublimierungen liest man in "Das Unbehagen in der Kultur": "Die Ersatzbefriedigungen, wie die Kunst sie bietet, sind gegen die Realität Illusionen." Und an anderer Stelle: "Die Kunst ist fast immer harmlos und wohltätig, sie will nichts anderes sein als Illusion." Also alles sinnlos? Künstlerinnen und Künstler als Traumtänzer ohne jeden gesellschaftlichen Nutzen? Narzisstische Schmarotzer? Nein. Freud hat auch Trost, gar Lob parat. Die Illusion sei "nicht minder psychisch wirksam dank der Rolle, die die Phantasie im Seelenleben behauptet hat". Und: "Der Künstler hatte sich wie der Neurotiker von der unbefriedigenden Wirklichkeit in diese Phantasiewelt zurückgezogen, aber anders als der Neurotiker verstand er den Rückweg aus ihr zu finden und in der Wirklichkeit wieder festen Fuß zu fassen."

Zusammenfassend heißt das: Die Kunst rettet also nicht nur jene, die sie erschaffen, sie hat auch eine Außenwirkung. Dank besonderer Begabungen entstehen aus der Phantasie neue Wirklichkeiten, "die von den Menschen als wertvolle Abbilder der Realität zu Geltung gelassen werden", liest man in "Das Ich und das Es".   

Wer also in den Keller kommt, in diesen Keller, hat die Chance, "wertvollen Abbildern der Realität" zu begegnen, neue Wirklichkeiten zu erleben, die fraglos mit besonderer Begabung aus der Phantasie gestaltet wurden. Nur aus der Phantasie? Diesbezüglich muss man bei Freud wohl eine etwas zu enge Vorstellung von Kreativität diagnostizieren. Schon zu seiner Zeit - und in den Zeiten davor - hatte Kunst mit wirklicher Wirklichkeit zu tun.

In diesem Sinn: Willkommen im Keller. Willkommen bei einem Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst, Realität und Phantasie. Fürchten Sie sich nicht. Lassen Sie sich in diesem Gewölbe von Freud und Gerstel leiten. Gern teilt der Künstler den "Gewinst", den er aus intensiver Beschäftigung in ständiger Gesellschaft von Es, Ich und Über-Ich generiert. Durch lustvolle, manchmal zwangsläufig auch frustrierende Sublimation. Verweilen Sie im Keller. Setzen Sie sich der Kunst Wilfried Gerstels aus. Und gehen Sie in sich. Beides lohnt. Satisfaction guaranteed. 

 

Walter Titz, geboren 1951 in Graz, Studium der Germanistik und Anglistik; seit 1974 für die „Neue Zeit“, später für die „Kleine Zeitung“ als Kulturjournalist tätig, Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen, wie „Die Neue Galerie Graz in 99 Werken“