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Hermann Schlösser

 

Wer hat die schönsten Schäfchen?

Octavian? Ist das nicht der Rosenkavalier aus der berühmten Oper? Ja sicher, das ist er, unverkennbar: Octavian von Rofrano, siebzehnjähriger Liebhaber der Marschallin und  Brautwerber für seinen Vetter Lerchenau. Schau, wie vorsichtig er die silberne Rose zwischen den behandschuhten Fingern balanciert! Sein graues Jabot wird von einer kostbaren Brosche gehalten, und seine weißgepuderte Perücke mündet in jene elegant gedrehten Lockenröllchen, die im 18. Jahrhundert eines jeden Edelmannes Zierde waren. Jetzt müsste der Jüngling nur noch ein paar feierliche Schritte tun, den Mund öffnen und singen: „Mir ist die Ehre widerfahren, dass ich der hoch- und wohlgeborenen Jungfer Braut . . .“ und so weiter.

Aber der Octavian, vom dem hier die Rede ist, singt nicht. Stumm hängt er an der Wand und erwidert die Blicke all jener, die ihn anschauen. Seine schmalen, etwas schräg gestellten Augen machen einen leicht hochnäsigen Eindruck. Und der gespitzte Mund sagt in aller Stummheit, dass diese fesche Erscheinung vielleicht ein Aristokrat, bestimmt aber ein Schnösel ist.

Dabei ist sein Auftreten durchaus nicht über jeden Zweifel erhaben. Der Daumen seiner linken Hand zum Beispiel ist um einiges zu klobig für das zierliche Geschäft der Rosenüberreichung. Und welches Gewand trägt dieser Octavian eigentlich unter seinem Spitzenjabot? Einen Frack? Nein, das nicht. Wo ein nobles Textil am Platze wäre, ist sein Leib von einem braunen Fell bedeckt. Von einem Fell? Das ist eigenartig! Wieso hat ein Rokoko-Kavalier ein Fell, wo er doch alles tut, um seinen biologischen Rohzustand durch Perücken und Brüsseler Spitzen zu verbergen? Aber eben das gelingt ihm nicht. In der Oper von Strauss und Hofmannsthal wird der junge Rosenkavalier von einer Sängerin verkörpert, was eine Atmosphäre androgyner, exquisiter Künstlichkeit erzeugt. Der Octavian hier ist hingegen weder Knabe noch Mädchen. Sondern was? Ein Schaf, das in ein Galakostüm gesteckt wurde.

Der Keramiker, Bildhauer und Maler, der dieses dekorative Tier modelliert hat, heißt Wilfried Gerstel. Er lebt in Graz und in Wien, wo man ihn in seinem Atelier in Meidling besuchen kann, um Näheres über seine Schafskulpturen zu erfahren. Man wird von ihm nicht nur mit Kaffee und Keksen bewirtet, sondern auch mit einem Blick in die Werkstatt, in der seine Figuren Gestalt annehmen. Aus Ton (mit einer Beigabe von Schamott) modelliert Gerstel dort den Körper, dem er dann mit Hilfe eines feinen Bestecks, das ihm ein alter Zahnarzt überlassen hat, Falten, Konturen und mimische Finessen einschreibt. Neben dem Arbeitstisch steht der kleine Brennofen, in dem Octavian und seine Artgenossen bei 1200 Grad Celsius ihre notwendige Festigkeit erreichen. Schließlich werden sie noch mit ausgesuchten Materialien – im Falle Octavians etwa Blattsilber – geschmückt und individuell ausgestattet.  

In der Natur haben Schafe – zumindest aus menschlicher Sicht – keine sehr ausgeprägte Individualität. Wer sich zoologisch auskennt, weiß vielleicht, welche Besonderheiten einheimische Rassen wie das Tiroler Bergschaf, das Kärntner Brillenschaf oder das Montafoner Steinschaf aufweisen. Aber angesichts einer blökenden, ruhig trottenden oder hektisch fliehenden Herde wird allenfalls ein erfahrener Schäfer imstande sein, ein Einzeltier vom anderen zu unterscheiden. Dieses tendenzielle Verschwinden des Einzelnen im Gesamtverband hat dem Schaf bei den Menschen den Ruf eingebracht, ein uniformes Wollwesen zu sein: freundlich, aber auch ein bisschen einfältig. Verglichen damit, kann sich der Mensch dann seiner Individualität brüsten, und sich den Schafen überlegen fühlen.    

Wilfried Gerstels Kunstschafe stellen diesen menschlichen Hochmut ironisch in Frage, denn ihre Besonderheiten brauchen sich vor der angemaßten Singularität menschlicher Kreaturen nicht zu verstecken. Im Gespräch macht der Künstler klar, dass ihm nichts daran liegt, den immer gleichen Tierkörper zu multiplizieren. Ihm geht es nicht um eine standardisierte Serie, sondern um eine Sammlung unverwechselbarer Unikate. Jedes Schaf, das unter seinen Händen entsteht, verkörpert etwas Eigenes. Das Kärntner Brillenschaf zum Beispiel, das zu Gerstels Herde gehört, schaut nicht blasiert wie Octavian, sondern vergnügt und aufgeweckt. Zugleich wird es seinem Namen dadurch gerecht, dass es eine schwarz geränderte Brille trägt. Dadurch ist dieses Exemplar von anderen Kunstfiguren Gerstels ebenso auffällig verschieden wie von den leibhaftigen Brillenschafen auf Kärntens Weiden, die diesen Namen tragen, weil ihre Augen von schwarzhaarigen Kreisen umrundet werden.

Auch wenn sich das Schaffen des Künstlers keineswegs auf die Herstellung von Schafen beschränkt, nehmen sie doch einen bedeutenden Platz in seinem weitläufigen Œuvre ein. Viele von ihnen zieren als hängende Skulpturen die Wände von Privatwohnungen und von Galerien – zurzeit ist ein Dutzend von ihnen unter dem Titel „Schafscharaden“ im Ceramic Art Space am Wiener Kohlmarkt zu sehen.

Die „Scharade“ ist ein altes Ratespiel, in dem ein Begriff pantomimisch dargestellt wird: Drei Frauen gehen in einer Reihe hintereinander, die Dritte kaut demonstrativ auf einem Stück Brot herum. Welche Phrase wird auf diese Weise ins Bild gesetzt? „Die letzte Frist“. Dass bei einer solchen Verbildlichung die Orthographie missachtet werden kann, dass also „Frist“ und „frisst“ genauso gleichbehandelt werden dürfen wie „die letzte“ und „die Letzte“, gehört zu den Regeln des Spiels, dessen Witz vor allem im Ausspielen von Mehr- und Doppeldeutigkeiten besteht.

Auch die „Schafscharaden“ Wilfried Gerstels leben davon, dass die Figuren mit mehr als einer Bedeutung aufwarten. Warum sollte das auch anders sein? Das Schaf ist nicht nur ein seit Jahrtausenden geschätztes Haustier, von dem die Menschen Wolle, Milch und Fleisch beziehen, es spielt auch eine imaginäre Hauptrolle im Fundus der religiösen Symbolik. Insbesondere das Jungtier ist schon dem Alten Testament als bevorzugtes Opfertier geläufig, das an Ostern zur Ehre Gottes gegessen wird. Da Jesus Christus kurz vor Ostern am Kreuz von Golgatha starb, wurde er in einer wohlbekannten Allegorie selbst zum Lamm Gottes (Agnus Dei) ernannt, das von seinem Vatergott zur Erlösung der Christenheit geopfert wurde. Aber die Gläubigen empfinden sich auch selbst als fromme Herde: bewacht und behütet von Gott, dem „guten Hirten“ schlechthin. Im selben sakralen Bildbereich sehen sich die irdischen Stellvertreter Gottes, wie der päpstliche „Hirtenbrief“ ebenso beweist wie das lateinische Wort „Pastor“, das nichts anderes bedeutet als „Hirte“.

Wilfried Gerstel nimmt alle diese Bezüge wahr, aber nicht ernst. Ein Schafwesen, dessen Gesichtsausdruck das schmückende Adjektiv „bigott“ verdient, übt zum Beispiel mit den Vorderbeinen (oder Armen?) eine pastoral segnende Gebärde aus. Um den Hals trägt es eine Kette, an der ein kleineres Schäfchen hängt. Aha, denkt man bildungsversorgt, das wird wohl eine Anspielung auf den alt-habsburgischen „Orden vom Goldenen Vlies“ sein, der sich einst das Goldfell des mythischen Widders Chrysomeles als Wappentier erwählt hatte. Aber diese gelehrte Assoziation verfehlt, wie so viele ihrer Art, das sichtbare Kunstwerk. Was der Bildungsbürger übersah, wird jedes Kind sofort erkennen: Der Kettenanhänger gleicht nicht dem Vlies des toten Chrysomeles, sondern der Animationsfilmfigur „Shaun das Schaf“, die nicht in kunsthistorischen Museen daheim ist, sondern im Fernsehen.

Auch die Kopfbedeckung des scheinfromm segnenden Schafs ist nicht so hochwürdig, wie sie dem ersten Blick erscheint. Sie hat zwar die Form eines Bischofshutes, ist aber aus einem Werbeflugblatt zusammengeklebt, auf dem zu lesen steht: „Gib deinem Garten ein Zuhause.“ Der Begriff, der sich aus dieser Scharade ergibt, heißt folglich „Ovi et Obi“. Das ist einerseits eine Verballhornung des päpstlichen Ostersegens „Urbi et orbi“, andererseits eine Anspielung auf das Schaf (lateinisch „ovis“) und auf die allgegenwärtige Baumarktkette, deren Slogan die selbstgebastelte Bischofsmütze zum Werbeträger degradiert. Alle diese und noch viele andere Bezüge sind den Schafen vermutlich gleichgültig, während sie sanft ihre Grashalme kauen. Aber uns, den menschlichen Zeitgenossen des frühen 21. Jahrhunderts, bieten Wilfried Gerstels Phantasiegebilde reichlich Stoff zur denkenden Betrachtung.   

 

Hermann Schlösser, geboren 1953 in Worms, Dr. phil, Germanist und Anglist. War von 1997 bis 2018 als Redakteur der „extra“-Beilage bei der „Wiener Zeitung“ angestellt. Lebt als Literaturwissenschaftler und Journalist in Wien. Zahlreiche feuilletonistische und wissenschaftliche Beiträge zur Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts.